Wittgenstein und das Projektmanagement: Was wir vom Philosophen für die Praxis lernen – Teil 1

David Weicht

Projektmanager für digitales Marketing

Wittgenstein und das Projektmanagement: Was wir vom Philosophen für die Praxis lernen – Teil 1.

Ludwig Wittgenstein

Dieser Artikel erschien im Fachblatt „Projektmanagement Aktuell“ der Gesellschaft für Projektmanager.

 

Im Bombengewitter des Ersten Weltkriegs schrieb der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein sein Meisterwerk mit dem kryptischen Titel »Tractatus logico-philosophicus«. Es wurde 1921 veröffentlicht und beeinflusst seither Denker, Künstler und Macher.

 

Im Tractatus fragt Wittgenstein, was Sprache ist und zerbricht sie dabei auf ihre Elemente. Für ihn ist die Sprache das Instrument unseres Denkens, das wir jedoch oft falsch einsetzen. Wenn wir über unsere Welt philosophieren und sie mit der Wissenschaft entdecken, nutzen wir dazu die Sprache. Wittgensteins Ziel war, mit dem Tractatus eine einheitliche Logiksprache, eine formale Sprache der Sprachen zu schaffen, die das Philosophieren und das Forschen überhaupt erst ermöglichen sollte.

 

Ein Werk für Ordnungsverliebte und eine Inspiration für Projektmanager:innen.

Trotz der Kürze des Buches fassen es selbst hartgesottene Philosophen schwer in seiner Gänze. Gar zu schweigen Laien wie ich. Doch beim Anblick der klaren Struktur des Buches – die Gedanken sind nummerierte, hierarchisch gegliederte Sätze – schlägt jedes Herz schneller, das Aufbau und Ordnung liebt. Diese Klarheit erlaubt, Wittgensteins Aussagen aus dem Werk zu picken, sie für sich zu betrachten und sich von ihrer Stärke faszinieren zu lassen.

 

Auch wenn Wittgensteins Ideen im hohen theoretischen Kontext leben, ziehe ich Essentielles fürs praktische Projektmanagement. Drei Sätze aus dem Tractatus schätze ich besonders, die ich mithilfe von Erkenntnissen der Wissenschaft, Normen globaler Projektmanagementstandards und persönlichen Praxiserfahrungen untersuche.

 

Was können wir aus Wittgensteins ausgeklügeltem Werk für das praktische Projektmanagement lernen?

 

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“

Spricht Wittgenstein von der Welt, meint er mehr als die Erde, auf der wir uns physisch befinden. Die Welt ist alles, was unseren Sinnen erscheint und alle dazugehörigen Gedanken. Ein Projekt sind gebündelte Gedanken und bilden demnach eine Welt. Die Grenzen dieser Welt erschaffen wir mit der Sprache des Projektes. 

 

Idealerweise arbeiten alle Projektteilnehmer an einer Welt. Wir verstehen andere und andere uns aber nur, wenn wir die gleiche Sprache sprechen. Das ist die im Projekt herrschende Amtssprache (Lingua Franca). Das sind Begriffe, über deren Bedeutung sich alle Projektteilnehmer einig sind (Shared Language). Das sind Redewendungen, die wir unbewusst ins Team einbringen, tagtäglich nutzen und fortleben, selbst wenn der Erfinder das Projekt oder das Unternehmen längst verlassen hat (Shared Culture).

 

Gleiches gilt für Neue im Team, die das Projekt und die Teamkultur durch eine geteilte Sprache – häufig in Lichtgeschwindigkeit – lernen müssen. Ich denke an meinen ehemaligen Chef und PM-Meister, der an meinem ersten Arbeitstag meine unaufhörlichen Fragen zu den in der Agentur herrschenden Abkürzungen abgewinkt hatte. »Zu viele, um sich alle zu merken«, und ich gab berechtigterweise auf.

 

Fremde Sprache, fremde Welt.

Überhaupt betrifft Wittgensteins Aussage Wissen, das uns fremd ist:

Sprechen Experten Jargon, verstehen wir sie nur soweit unser Wissen über ihr Gebiet reicht. Unsere Welt ist somit begrenzt. Das gleicht einer Reise ins Ausland, deren Landessprache wir unfähig sind.

 

Grenzen sind ein natürlicher Bestandteil von Projekten. Dabei ist es nicht nur der Scope, der Umfang, der Projekte begrenzt. Hierbei denken wir an das Projektdreieck – oder in meinem Falle an den Projektkristall –, das wir Projektmanager:innen mit dem Scope an den weiteren Ecken Kosten und Zeit in Grenzen halten und damit die im Mittelpunkt stehende Qualität schaffen.

 

Lass uns Wittgensteins Gedanken spaßeshalber ins Extrem ziehen. So können wir sagen, dass Qualität, die aus dem Zusammenspiel des Projektkristalls wächst, durch Sprache entsteht. Wir bringen den Kristall mit unserer Sprache zum Glänzen. Je besser die Sprache, desto besser die Projektqualität.

 

Zur Verbesserung der Projektsprache existiert kein Allheilmittel, aber einige Techniken. Darunter ein praktisches Hilfsmittel, das selbst dem wissensscheuen Mittelalter bekannt war: Glossare.

 

Glossare als Sprachbasis im Projektmanagement.

Ein Glossar ist ein Wörterverzeichnis mit Erklärungen der darin aufgeführten Begriffe und bezieht sich auf einen bestimmten Wissensbereich. Das sind beispielsweise Wörter eines themenspezifischen Buches, die als Anhang in einem alphabetischen Glossar erklärt werden. Das sind technische Begriffe in einem Handbuch. Das sind Abkürzungen, die wir nervraubend vergessen. Das sind alle wichtigen Begriffe unseres Projektes.

 

Die Ziele eines Glossars sind, Konzepte einfach verständlich zu machen, ihr Vokabular zu lernen und Kommunikation zu erleichtern.

 

Form, Farbe und Umfang des Glossars obliegt uns Projektmanager:innen. Das reicht von einer Handvoll Begriffen in einem Briefing für eine Minikampagne, bis hin zu einem breiten Markenglossar, das die Basis für Stakeholder und ihre Welt bildet. In Anbetracht der etlichen Aufgaben als Projektmanager:innen lautet das pragmatische Mantra entsprechend »So wenig wie möglich, so viel wie nötig«. 

 

Ein Glossar lebt und wächst. Und zwar an einem für alle Stakeholder zugänglichen Ort, bestenfalls im Projektplan selbst. Je mehr wir – als Projektmanager:innen, als Team, als Unternehmen – lernen, desto größer und schärfer erleben wir unsere Welt. Neue Begriffe verzeichnen wir einstimmig im Glossar. Missverständliche Wörter werden überdacht und redefiniert. Wir überführen bestehende Begriffe aus vergangenen Projekten in neue Projekte, für neue Welten, die wir mit den Stakeholdern gemeinsam kreieren. Die Stärke unseres Glossars bedeutet die Stärke unseres Projektes. Vom philosophischen Ross Wittgenstein auf den knorrigen Besenstiel eines popeligen Glossars?

 

Wirkung von Glossaren auf den Projekterfolg – von der Malariabekämpfung hin zu Fremdsprachen.

Die Wissenschaft bestätigt es jedenfalls. Eine Studie im Rahmen der Non-Profit-Organisation Target Malaria, die sich mit der Bekämpfung und Eindämmung des bösartigen Virus beschäftigt, untersuchte den Einsatz von Glossaren in Projekten mit Hinblick auf die Steigerung der Projektergebnisse. Die Resultate zeigen, dass der Einsatz eines Glossars, das gemeinsam gepflegt und gelebt wird, positiv auf den Projekterfolg wirkt.

 

Zum einen erhöhte das Glossar die Projektbeteiligung bei den Stakeholdern. Da keine neue Sprache erfunden werden musste, konnten komplexe Konzepte mit bestehenden, allen Stakeholdern verständlichen Wörtern aus dem Glossar erklärt werden. Neue Begriffe, die im Laufe des Projektes geschaffen wurden, fanden Einzug ins Glossar. Die Wiederverwendung der Begriffe sparte nicht nur Zeit, sondern machte jeden Stakeholder gleichsam schlauer.

 

Die einheitliche Definition ermöglichte die Übersetzung des Glossars in verschiedene Landessprachen. Zudem wurden die einheitlichen Begriffe in Schulungsvideos und Werbematerial verwendet. Dank der konsistenten Sprache wurde eine konkrete, einheitliche Botschaft in verschiedene Länder übermittelt.

 

Die Brücke zum Lernen von Fremdsprachen liegt nahe. Forscher der Universität Las Palmas untersuchten den Einfluss von Glossaren auf die Wirksamkeit des Erlernens fremdsprachiger Fachbegriffe. Die Ergebnisse zeigen, dass gemeinsam erarbeitete Glossare autonomes und kollaboratives Lernen vereinen. Glossare helfen Stakeholdern, ihr Wissen einzubringen und damit zu vertiefen. Außerdem drücken sich Glossarbenutzer inhaltlich klarer und phonetisch deutlicher aus.

 

Natürlich sparen wir uns die Verschriftlichung der Aussprache in unseren Projekten aus praktischer Sicht. Die Studie zeigte jedoch, dass speziell im internationalen Kontext Übersetzungen und phonetische Aussprache in Glossaren zu größeren Lernerfolgen der Begriffe führen können. Damit verbessert sich die Kommunikation zwischen Menschen und fördert das Kulturverständnis.

 

Auch globale Projektmanagementstandards plädieren für den Einsatz von Glossaren. Schließlich basieren gute PM-Standards auf Glossaren. Ein Beispiel für ein ausgewogenes Glossar ist der deutsche Standard DIN 69901 mit fünf bis hundertfünfzig Begriffen.

 

Für die Norm ISO/TC 258 existiert sogar ein eigenständiges Dokument, in dem standardweite Begriffe definiert sind. Das Project Management Body of Knowledge des PMI sieht Glossare als wesentlichen Teil des Communications Management Plans. Und im Scrum gehören die Definitionen von Entry, Ready und Done in jedes Projektglossar.

 

Glossare in der Praxis – Segen oder Zeitverschwendung?

Definitiv ein Segen – diese Erfahrung mache ich jedenfalls in der Praxis. Beispielsweise betreute ich die Masterwebsite einer internationalen Automarke. Das Projekt war mit einer breiten Palette von Stakeholdern gespickt, darunter viele Freelancer, die im gefühlten Wochenrhythmus wechselten und entsprechend schnell aufsatteln mussten.

 

Auch wenn wir mit Scrum einen agilen Projektansatz verfolgt hatten, brachen Lücken empor, die auf einer fehlenden, geteilten Projektsprache basierten. Zwar wusste jeder, dass unsere Website eine Navigation hatte. Jedoch bestand diese aus drei Teilen, die jeder im Team anders nannte. »Wir reden über die Navigation«, sagte der Kunde. »Welche der drei Navigationen?«, fragte die Konzepterin berechtigterweise konkreter. Speziell der hektische Projektstress macht uns dumm und sprachfaul. Das macht eine dokumentierte, konstante Sprache essentiell.

 

Da ich das Projekt geerbt hatte und überhäuft mit fremden Konzepten war, musste ich erst mal den Überblick gewinnen. Im Stillen habe ich ein Glossar definiert. So baute ich – wenn auch erst mal nur meine – Welt. Die Begriffe aus meinem Glossar nutzte ich daraufhin in jeder User Story. Ich hing die Begriffe in einer Terminologie in die Tickets. Als das Glossar meine Notizen überwucherte, schob ich es auf eine dafür eingerichtete Confluence-Seite und teilte den Link mit allen Stakeholdern.

 

Mir unklare Begriffe habe ich mir mit naiven Fragen von Experten erklären lassen. Als internationales Team herrschte Englisch als Amtssprache. Jedenfalls sprudelten selbst die wortkargen Entwickler vor Erklärfreude. Da ist mir aufgefallen, dass Menschen eine Fremdsprache besser sprechen, wenn sie von etwas reden, das sie interessiert. Frag einen Experten, dir einen Begriff aus seiner Welt zu erklären. Er wird dich notfalls mit Händen und Füßen abholen.

 

Die Begriffe wurden vom Team übernommen. Hier und da schärften wir Definitionen. Von da an sprachen wir die gleiche Sprache. Nun ging es in Meetings um die »Hauptnavigation« oder die »Subnavigation«. Da wir parallel an einem Design System gearbeitet hatten, verheirateten wir das Glossar mit der dazugehörigen Komponentenbibliothek. Aber auch Begriffe, die unabhängig von den Deliverables unsere Welt formten, wurden vereinheitlicht, im Glossar gepflegt und verbesserten die Kommunikation unter den Stakeholdern.

 

Ein Glossar ist ein einfaches Mittel, um wesentliche Projektbegriffe zu definieren, zu sammeln und Stakeholdern praktisch bereitzustellen. Ein Glossar ist das Wörterbuch unserer Welt, das Konzeptinventar unseres Projektes, das wir mit dem magischen Werkzeug Sprache in Grenzen halten.

 

Gemeinsame Sprache, gemeinsame Welt.

Um die Grenzen eines Projektes zu definieren, bedarf es natürlich mehr als ein Glossar. Weitaus grundlegender ist unsere tägliche Anwendung der Sprache. Es klingt simpel, doch wir kennen die Tücken des Stresses und der Sprachfaulheit.

 

Wenn wir unsere Welt durch unsere Sprache begrenzen, so gilt dies auch für unsere Mitmenschen – in diesem Falle die Stakeholder unserer Projekte. Mit unserer Sprache bringen wir Menschen in unsere Welt, laufen aber auch Gefahr, sie auszugrenzen. Unsere Sprache wirkt so unweigerlich auf unser Denken und Wohlbefinden.

 

Besonders interdisziplinäre Teams stehen vor der Herausforderung, Wissen unter instabilen Bedingungen schaffen zu müssen. Treffen zahlreiche Köpfe aus unterschiedlichen Zweigen und Wissensstufen aufeinander, bedarf es einer gemeinsamen Sprache zur erfolgreichen Kollaboration.

 

Denken wir also in einer gemeinsamen Sprache, sehen wir bestenfalls eine gemeinsame Welt – wenn auch eine verzerrte Welt, die wir durch unsere persönlichen Filter wie Vorurteile, Wissensstand oder Erfahrungen individuell erleben. Auch hier zeigt die Wissenschaft den positiven Einfluss einer Shared Language auf das Projektmanagement.

 

Eine Studie der ETH Zürich zeigte, dass Verständnis und Anwendung einer gemeinsamen Sprache zu besserer Kollaboration, höherer Qualität und höherer Jobzufriedenheit unter Mitarbeitern führte.

 

Anderweitig untersuchte Vincenzo Corvello das Nutzungsverhalten akademischer Forscher in wissenschaftlichen Sozialen Medien. Er fand heraus, dass eine geteilte Sprache und der Nutzen von Wissen positiv aufeinander wirken. Verstehen wir die Sprache, können wir sie einfacher in unser bestehendes Wissen integrieren. Damit nutzen wir das erlangte Wissen mit größerer Wahrscheinlichkeit. Und wenn wir ohnehin die gleiche Sprache sprechen, fällt es uns leichter, Wissen mit anderen zu teilen. Geteilte Sprache und das Teilen von Wissen gehen Hand in Hand und schaffen Vertrauen.

 

Das ist besonders bei frischen Teams wichtig, deren Mitglieder erstmals zusammenarbeiten. Eine gemeinsame Sprache ist ein unabdingbarer Indikator für den Projekterfolg. Die gute Nachricht: Menschen, die über einen Zeitraum in einem Team arbeiten, schaffen zwangsläufig eine geteilte Sprache. Und Menschen, die eine Sprache teilen, kollaborieren auch wahrscheinlicher in der Zukunft wieder. Gleiche Sprachen ziehen sich an und schaffen Chancen für neue Ideen, neue Projekte und positives Wohlbefinden.

 

Der bewusste Einsatz von Sprache fördert also das Teamengagement. Die Sprache muss aber auch gelernt und gesprochen werden. So wie wir eine Fremdsprache besser lernen, wenn wir reisen oder verliebt sind – im besten Falle beides – , lernen wir eine geteilte Sprache, indem wir Sozialisieren. In einer der Effizienz verfallenen Welt scheuen wir uns leider zu oft, an der Kaffeemaschine zu plaudern oder mit Stakeholdern, die man sonst meidet, eine Mittagspause zu genießen. Damit gehen die Chancen des Sprechens und des größeren Projekterfolgs verloren.

 

Wertvoller Einsatz von Sprache und Projektmanager:innen im Sprachgarten.

Wir sollten daher Wert auf unsere Sprache legen. Das gilt natürlich grundlegend für eine respektvolle Sprache, schließlich sind wir Menschen. Aber auch technische und projektbezogene Begriffe sollten wir eindeutig nutzen. Besonders wenn uns der Projektalltag entgegenschießt, sollten wir Wörter bewusst wählen. Wortakrobatiken kosten Platz (in Zeichenlänge) und Zeit (in Geld), also wählen wir einfache, allgemein verständliche, kurze Wörter.

 

Als Projektmanager:innen ist es unsere Aufgabe, alle Stakeholder mit Informationen zu versorgen, wann immer und in welcher Form sie benötigt werden. Abgesehen von projektspezifischen Wörtern, holen wir alle Stakeholder mit einfacher Sprache ab.

 

Wir nutzen unsere geteilte Sprache bewusst, um Grenzen zu definieren. Worüber reden wir, wenn wir über X reden und worüber reden wir nicht? Genauso erweitern wir Grenzen. Wörter und Redewendungen entstehen im Projektverlauf, variieren und bekommen neue Bedeutungen. Als gute Projektmanager:innen nutzen wir bestehende Sprache und kultivieren neue Sprache. Sprachgärtner sozusagen. Was wunderbar zu Wittgenstein passt, der neben seiner Professur an der renommierten Universität Cambridge Gärtner und Architekt war. Bei letzterem musste er den Bauleiter in den Wahnsinn getrieben haben – die Decke lag ihm zu niedrig und musste im Nachhinein um drei Zentimeter höher gelegt werden.

 

Onboarding, oder: Willkommen in unserer Welt.

Unser Garten steht – die Welt existiert. Plötzlich klingelt es. Am Tor zu unserem Projektgarten steht der neue Stakeholder. Oft ein neues Mitglied im operativen Team. Auch wenn es nicht unser persönlicher Garten ist, obliegt es uns Projektmanager:innen, Neuankömmlinge in unsere Welt einzuführen. Wie helfen wir Neuen konkret, Grenzen zu überschreiten und sich in unserer Welt zurechtzufinden?

 

Blicken wir zurück: Wir besitzen ein Glossar, eine geteilte Projektsprache. Dazu alle weiteren Dokumente, die Teil unseres Projektplanes sind – die Karte unserer Welt, das Wörterbuch, und alles, was dazugehört. Neue Teammitglieder ins kalte Wasser zu werfen und zu hoffen, dass sie von selbst schwimmen, kostet. Unternehmen verlieren jährlich Unsummen, weil Mitarbeiter ihren Job missverstehen. Dazu gehören sowohl Frustrationen der neuen Mitarbeiter, als auch bestehender Experten.

 

Wir Projektmanager:innen kennen die Herausforderungen des Tagesgeschäftes. Persönlich fehlt uns immer Zeit. Dem Unternehmen fehlen oft Prozesse und Wissensträger. Auch wenn wir unser Flugzeug während des Fluges bauen, sollte jeder Passagier – wie bei jeder üblichen Flugreise schließlich auch – ein gutes Onboarding genießen. Folgen Sie bitte den Anweisungen des Bordpersonals.

 

Das Onboarding ist ein Prozess, um neuen Mitarbeitern den Einstieg in die Unternehmenskultur, in die Arbeitsstelle und in die Projektwelt zu erleichtern. Ziel des Onboardings ist, den Neuankömmling so schnell und so gut es geht in den Arbeitsalltag zu integrieren.

 

Schließlich zahlen Unternehmen hohe Preise, indem sie Mitarbeiter rekrutieren, trainieren und – besonders in Zeiten hohen Personalwechsels – pflegen. Müssen regelmäßig und viele Neue gleichzeitig an Bord gebracht werden, ist ein durchdachtes Onboarding besonders essentiell.

 

Ein Forschungsteam der Universität Heidelberg untersuchte den Einfluss von Faktoren, welche die Transaktionskosten eines Projektes senken. Transaktionskosten sind Kosten, die wir zahlen, um eine Dienstleistung oder ein Produkt zu erwerben – das können Kreditkartengebühren beim Bezahlen der Ware, aber auch die Zeit selbst sein, die wir benötigen, um Neues zu lernen. Die Studie ergab, dass das schnelle Onboarding aller Stakeholder ein kostensenkender Faktor ist. Onboarding hat einen positiven Einfluss auf den Projekterfolg, indem es Transaktionskosten senkt.

 

Gutes Onboarding zeichnet sich durch drei Faktoren aus: Im Unternehmen existieren Dokumente und definierte Prozesse zum Onboarding; Mentoren und Neuankömmlinge kommunizieren produktiv und Mentoren besitzen professionelle Kompetenz.

 

Der Mentor als Reiseführer auf den Weltenwegen.

Hier zeigt sich die Wichtigkeit eines guten Mentors. Ein kundiger Reiseführer, der uns in neue Welten leitet. Er berät, formt die Umstände, damit Mitarbeiter sich entwickeln und wachsen können. Zu den wichtigsten Eigenschaften eines guten Mentors zählen vor allem Geselligkeit und Freundlichkeit, Toleranz und Geduld sowie eine innere Ruhe und emotionale Reife, die sich durch Selbstvertrauen und Beherrschung in Stresssituationen widerspiegelt.

 

Auch der Projektmanagementstandard des PMI plädiert für gutes Onboarding. So sind Pläne, Prozesse und Wissen des Unternehmens Teil der Organizational Process Assets, deren Einführung im Communications Management Plan angedacht ist und durch die konstante Schaffung neuen Wissens des Knowledge Managements gefüttert wird. 

 

Praxisnah empfiehlt das PMI auch ein Buddy System. Ein persönlicher Pate führt jeden neuen Mitarbeiter in die Teamkultur ein, steht bei Fragen zur Seite und hilft, wenn die Last des Neuen erdrückt. Auch hier ist ein formal dokumentierter Onboarding-Prozess wichtig. Laut PMI spornt ein guter Buddy neue Mitarbeiter von Beginn an, Wissen mit dem Team zu teilen. Und mit jedem neuen Mitarbeiter hat das Onboarding die Chance auf Feedback und damit auf Verbesserung, womit wir wieder bei der agilen Philosophie landen.

 

Von der Atomphysik bis zum Projektmanagement – die Fallen und Gemeinsamkeiten des Onboardings.

Die Tiefe des Onboardings variiert nur mit der Projektgröße. Letztlich ist jedes Onboarding gleich. Vom Hobbyprojekt bis zu hyperkomplexen Projekten wie dem Teilchenbeschleuniger (Large Hadron Collider) im Forschungsinstitut CERN. Die Atomphysiker verwalten mit überschaubaren Mitteln eine sehr begehrte Ressource und lösen dies unter anderem mithilfe eines klaren Onboardings.

 

Auch wenn ich weit vom Atomphysiker liege, fühlte ich mich an meinem ersten Agenturtag von tausenden Informationen überwältigt – als wäre ich durch einen Teilchenbeschleuniger gejagt worden. Glücklicherweise halfen mir zum einen eine Broschüre der Agentur, gespickt mit Überlebenstipps für die ersten Wochen, zum anderen eine detaillierte Präsentation mit zeitnahen Informationen wie Projekten der Agentur inklusive einem Überblick über die Kunden. Zudem kümmerte sich mein Vorgesetzter hervorragend und geduldig, mich Stück für Stück in meine neue Welt zu leiten.

 

Doch auch als Profis kennen wir die Probleme des Neueinstiegs. Dazu zählen Festangestellte genauso wie Freelancer, wobei ich leider oft miterlebe, dass letzteren die Hand zum Einstieg seltener gereicht wird. Auch wenn freie Mitarbeiter schnelle Aufsprünge gewohnt sind, bedarf es dennoch an Dokumenten, einem Ansprechpartner für Fragen und natürlich auch der eigenen Muße des neuen Mitarbeiters, sich ins Onboarding einzulesen und das Gelernte im Unternehmen anzuwenden.

 

Wie üblich lauern die Täter hinter den Barrikaden fehlender Zeit. Dazu halblose Dokumente mit veralteten Informationen, für die sich niemand zuständig fühlt und für die wahrscheinlich niemand verantwortlich berufen wurde. Aus praktischer Sicht ist das alles verständlich und schade. Hier ist Raum zur Verbesserung. 

 

Wenn wir als Projektmanager:innen unseren Fokus ein wenig, so gut es geht, vom täglichen Projektgeschäft auf das Onboarding legen, erhöhen wir auf Dauer die Qualität des Projektes. Hierbei sprechen wir neben dem Projektkristall des Projektumfanges, der Zeit und der Ressourcen, auch von allen Stakeholdern, einschließlich uns Projektmanager:innen.

 

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten also die Qualität meiner Welt als Projektmanager:in?

Exakt – mithilfe eines klaren und schnellen Onboardings aller Stakeholder sowie einer geteilten Sprache, die mitunter auf einem für alle Stakeholder verständlichen und transparenten Glossar beruht.

 

Mit einem Satz aus dem Tractatus bringt Wittgenstein Klarheit in unsere Projekte, schafft Verbindungen und entsprechend geteilte Erfolge, gemeinsame Welten, über die wir gerne sprechen und in die wir andere gerne mitnehmen.

 

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